Chile: Auf dem Weg zu einer neuen Demokratie?
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Chile: Auf dem Weg zu einer neuen Demokratie?

Szenische Lesung aus der Reihe »Aus den Akten auf die Bühne«

Das 18. Projekt der mehrfach ausgezeichneten Reihe »Aus den Akten auf die Bühne«unterscheidet sich von früheren Projekten, weil es das Publikum auch in die Gegenwart führt und über noch nicht abgeschlossene Prozesse informiert. Nur dank der intensiven transnationalen Zusammenarbeit mit Chilen:innen konnte das Projekt umgesetzt werden.
Die aktuelle Fassung der szenischen Lesung unterscheidet sich vor allem im zweiten Teil von der Premierenfassung, da sie den aktuellen Stand des Verfassungsprozesses berücksichtigt. Im Text ist die Aktualisierung durch kursive Schrift hervorgehoben.

Das an Rohstoffen so reiche Land am Ende der Welt, ist seit über 100 Jahren mit Deutschland eng verbunden. Galt in der Geschichte allerdings die Aufmerksamkeit hauptsächlich den beiderseitigen Handelsbeziehungen, rückt das Land in der jüngsten Zeit vor allem wegen der neuen Verfassung, die sich Chile geben wird, in den Fokus.
Im Jahr 2019 führten Proteste von Schüler:innen gegen eine Erhöhung der Metropreise um 30 Pesos im Oktober desselben Jahres zu einer sozialen Revolte (Estallido social). Aus der Kritik an 30 Pesos wurde schnell eine Kritik an der Politik der letzten 30 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur. Die Revolte richtete sich gegen die massive soziale Ungleichheit und mündete in die Forderung nach einer neuen Verfassung. In der bis heute geltenden Verfassung von 1980, die noch aus der Zeit der Diktatur stammt, ist das neoliberale Wirtschaftsmodell verankert. Darin wurde der Grundstein für die Privatisierung in elementaren Lebensbereichen gelegt.

In einem Referendum im Oktober 2020 stimmte eine überwältigende Mehrheit der Wähler:innen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Der direkt gewählte Verfassungskonvent war global die erste(!) verfassungsgebende Versammlung, die geschlechterparitätisch zusammengesetzt war. 17 der 155 Sitze waren für Vertreter:innen indigener Völker reserviert. In Chile herrscht Wahlpflicht und es wird von großer Bedeutung sein, welche Rolle den jungen Menschen und den Frauen für die Veränderung in Chile zukommen wird.
Die politische Rechte mobilisierte u.a. mit Fake News vor allem gegen Indigene. Ihre Kampagne zur Ablehnung der Verfassung erhielt von rechten Parteien, von Großunternehmen und dem Chef der Handelsbörse großzügige Unterstützung. Allen voran der gescheiterte rechtsradikale Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast, Sohn eines 1945 nach Chile geflüchteten Nazis, kämpft für ein “weißes Chile” und gegen einen „plurinationalen“ Staat.

Ergebnis des Referendums vom 4. September 2022 war die Ablehnung der vom Verfassungskonvent erarbeiteten Verfassung. Wie soll eine neue Verfassung entstehen, wer soll sie schreiben? Das vom Nationalkongress verabschiedete Abkommen für Chile vom 12.12. 2022 legt fest: Eine Expert:innenkommission mit je 12 vom Senat und von der Abgeordnetenkammer gewählten Mitglieder, u.a. Hernán Larrain, Minister für Justiz und Menschenrechte unter Präsident Piñera und Freund von Paul Schäfer/Colonia Dignidad. Dieses „Abkommen der Infamie“ – so Architekt Miguel Lawner am 13.12.2022 in »Le Monde Diplomatique, edición chilena« - stößt auf harsche Kritik. Die chilenische Menschenrechtskommission richtete im Januar 2023 ein von vielen Organisationen und Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst unterzeichnetes Schreiben an den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, in dem sie das Abkommen als “schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte in Chile” anprangerte.

Die Entwicklung wird global aufmerksam beobachtet, auch in Deutschland. Könnte die neue Verfassung auch die Beziehung zwischen Chile und Deutschland beeinflussen, die seit über 100 Jahren vor allem auf Abbau, Produktion und Handel mit den chilenischen Rohstoffen basiert (Salpeter, Kupfer, Lithium, grüner Wasserstoff)? Und wie positioniert sich die neue Regierung unter Präsident Gabriel Boric, einem ehemaligen Studierendenführer, zur neuen Verfassung? Wie agiert sie gegenüber internationalen Konzernen und im Konflikt mit den Mapuches im Süden Chiles?
Die szenische Lesung lässt wie immer Quellen auf der Bühne sprechen, doch anders als in früheren Lesungen ist dieses Mal das Ende offen.